Leserbrief in der OP vom 2.1.2021
Zum Artikel „Nazi-Drohbrief erschüttert Flüchtlingsfamilie“ vom 24. Dezember 2020:
Man traut seinen Augen nicht, als man am Heiligen Abend 2020 in der Oberhessischen Presse unter der Überschrift lesen konnte: „NaziDrohbrief erschüttert Flüchtlingsfamilie“. Der Inhalt des Drohbriefs ist so widerwärtig, abstoßend, von geistiger Umnachtung des Schreiberlings geprägt und die sogenannten christlichen Werte in den Dreck ziehend, dass man sie nicht wiedergeben will und kann. Auch ich war geschockt. Geschockt darüber, dass sowas, wenn auch anonym, immer noch möglich ist bei uns. Haben wir nichts gelernt aus der Nazi-Zeit? Die haben damals auch von „unwertem Leben“ gefaselt und in der Folge alles umgebracht, was nicht in den Kram passte. Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Christen, Behinderte, Homosexuelle, Sinti und Roma. Aber damit war noch lange nicht Schluss. Wer kennt heute nicht das beeindruckende Gedicht von Pfarrer Niemöller, „Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist…“ Wo ist heute an Weihnachten der Aufschrei der aufrechten Demokraten, wenn in einer erschreckenden und menschenverachtenden Weise über Flüchtlinge, ihre Frauen und Kinder hergezogen wird. Auch noch feige, weil anonym. Ausgerechnet an Weihnachten, für Christen das Fest der Liebe. Unerträglich der Gedanke, dass sich dieser Nazi-Drohbriefschreiber auch noch selbstzufrieden unter dem Tannenbaum räkelt und von Menschenwürde faselt. Man kann nur der Oberhessischen Presse, der Landrätin, dem Oberbürgermeister und anderen danken, dass sie sich sofort solidarisch mit der Flüchtlingsfamilie erklärt haben, den anonymen Brief als das bezeichnet haben, was er in Wirklichkeit ist: ein abzulehnendes Stück Scheiße, geistiger Dünnschiss. Ich möchte mich für meinen Landsmann und die anderen, die ähnlich denken, bei der Flüchtlingsfamilie entschuldigen, mit der Hoffnung verbunden, dass sie endlich in unserem Lande aufgenommen werden, wie es sich gehört. Ich schäme mich für meine Landsleute. Vergessen wir nie: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
Ferdinand Hareter, Weimar/Lahn