Stadt stellt sich ihrer Geschichte

Leserbrief vom 11. März 2021 in der Oberhessische Presse

Reaktion auf den Artikel „Konservativer wird AfD-Gesicht“: Über die Einlassung des Herrn Pozzi, Spitzenkandidat der AfD, zum Jägerdenkmal und der ihm beigesellten Gedenkinstallation „Verblendung“ muss ich mich doch wundern.

Ist es absichtliches Missverstehen, argumentative Böswilligkeit oder einfach Ausdruck eines schlichten Gemüts, dass Herr Pozzi, offenbar von jeder Kenntnis des intensiven Diskussionsprozesses um den historischen und künstlerischen Umgang mit dem Jägerdenkmal ungetrübt, den Uralt-Vorwurf wiederholt, man wolle so tun, als sei die Garnisonsvergangenheit Marburgs mitsamt dem 11. Jägerbataillon „nicht Teil der Geschichte dieser Stadt“, wolle sie „verleugnen“ oder sogar „tilgen“? Genau das Gegenteil ist doch der Fall: Mit der Aufarbeitung der Geschichte der Marburger Jäger durch die Geschichtswerkstatt, dem darauf basierenden Beschluss des Magistrats zur Errichtung der Gedenkinstallation, dem internationalen Kunstwettbewerb mit interdisziplinärem Auswahlgremium, schließlich der Errichtung des Siegerentwurfs, der „Verblendung“ von Heiko Hünnerkopf, stellt sich die Stadt Marburg ihrer Geschichte als Standort einer Militäreinheit, von der sie vielfach geprägt wurde, die jedoch zwischen 1871 und 1919 ganz oder in Teilen auch an manifesten Kriegsverbrechen in Frankreich, Belgien, Namibia, China und dem heutigen Polen beteiligt gewesen ist. Während ein Rundbrief der heutigen Jägerkameradschaft (der Herr Pozzi bekanntlich angehört) im Jahr 2002 die „Geschichte des Kurhessischen Jägerbataillons Nr. 11“ ungeachtet dieser sehr dunklen Seiten ein „Beispiel für großartiges Soldatentum und deshalb vorbehaltlos tradierbar“ nannte, ergänzt Hünnerkopfs „Verblendung“ diese Geschichtsschreibung um ihre bislang verleugnete Seite. Sie zeigt die Verankerung im rücksichtslosen Kolonialismus und Militarismus des nach Vorherrschaft strebenden deutschen Kaiserreichs, einer Ideologie, die unmittelbar in die Vorbereitungen zum nächsten, dem Zweiten Weltkrieg, mündete, was sich nach 1933 auch im Namen der Marburger SA-Einheit „Standarte Jäger 11“ niederschlug.

Die Errichtung der „Verblendung“ am Jägerdenkmal ist ein mutiger Schritt, Geschichte anzuerkennen und im Sinne einer vielfältigen und friedensfähigen Gesellschaft produktiv sichtbar zu machen.

Dabei schließt die Trauer um die Opfer der Untaten der Marburger Jäger die Erinnerung an jene, für die Marburger Familien das Denkmal einst finanzierten, nicht aus.

Auch sie sind Akteure im Kontext jener ideologischen Verblendung, die die Installation benennt.

Es wäre begrüßenswert, wenn diese Differenzierung auch in die Gedankenwelt des Herrn Pozzi Eingang fände.

Priv.-Doz. Dr.
Anne Maximiliane Jäger-Gogoll,
Marburg

Schon letztes Jahr…
Leserbrief vom 27. März 2020 in der Oberhessische Presse

Unwilligkeit zu lernen

Leserbrief zum Artikel „Marburger Jäger wollen Gedenkinstallation verhindern“ vom 21. März: Mathias Pozzi, Schriftführer bei den Jägerkameraden sowie beim Marburger Stadtverband der AfD, beklagt sich gegenüber der OP, dass „ein fast 100 Jahre altes Denkmal entwürdigt und entehrt wird“. Welche Ehre, welche Würde sollen hier durch einstweilige Anordnung gerettet werden? Es geht um die Umsetzung eines Beschlusses der Marburger Stadtverordnetenversammlung, diesem Denkmal eine Installation beizufügen, die einen deutlichen Hinweis auf die Untaten der Marburger Jäger enthalten und ihren Opfern ein Gesicht geben soll. Die Vorbereitungen zur Umsetzung des in öffentlichem Diskussionsprozess gefundenen Entwurfs sind weitgehend abgeschlossen.

Die Militäreinheit „Marburger Jäger“ war, wie die Geschichtswerkstatt erforscht hat, an der Zerschlagung der Pariser Commune 1871, der Niederschlagung des „BoxerAufstandes“ in China 1900/01, am Völkermord an den Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie DeutschSüdwest-Afrika 1904–1907, heute Namibia, am Massaker an der Zivilbevölkerung im belgischen Dinant 1914 und demonstrierenden Arbeitern im schlesischen Königshütte 1919 beteiligt.

Das 1923 errichtete Objekt war von Anfang an als Zeugnis des Revanchismus und Militarismus konzipiert. In der Weiherede rief der ehemalige Jäger-Kommandeur a.D. Karl von Börries die Jugend auf, bereit zu sein für Heldentod und neuen Krieg: „… Das Denkmal für unsere tapferen Marburger Jäger möge den nachkommenden Geschlechtern Mahnung und Ansporn sein, es den Vätern gleichzutun. Dermaleinst werden die Kriegstoten auferstehen und unsichtbar einherschreiten vor Deutschlands Streiterscharen, wenn unser Volk wieder erwachen wird.“ Der Kameradschaft (und/ oder der AfD) passt nicht, was das Parlament seinerzeit beschlossen hatte: „Die Stadtverordnetenversammlung betrachtet die Einrichtung einer solchen Gedenkinstallation nicht nur als einen wichtigen Beitrag für die Aufarbeitung Danke auch für die Disziplin der Geschichte des Militarismus in Marburg und für die Aufklärung kommender Generationen, sondern auch als einen lokalen Beitrag für eine Kultur des Friedens und der Völkerverständigung.“ Die „Jäger“ entehren sich selbst durch ihre Unwilligkeit zu lernen. Ein heute noch an führender Stelle aktiver Jägerkamerad zeigte bei der öffentlichen Vorstellung des Berichts der Geschichtswerkstatt die „18“ (Szene-Code für A. H.) auf seinem Hemdrücken. Sie reden bis heute von den Verbrechen als „angeblichen Geschehnissen“. Wer die Geschichte leugnet, bereitet den Boden für die Rechtfertigung neuer Verbrechen.

Ralf Schrader, für das Marburger Bündnis „Nein zum Krieg“, Marburg

Weiteres zum Thema „Marburger Jäger“

Einweihung des Denkmals für die Opfer der Marburger Jäger im September geplant.

Oberhessische Presse vom 14.8.2020:
Denkmal im Schülerpark fast fertig

Von Anne Maximiliane Jäger-Gogoll erschien zum Thema, angesichts anhaltender heftiger öffentlicher Debatte, ein fundierter Beitrag  in Wissenschaft und Frieden 4-2019, Ästhetik im Konflikt, S. 26-29. Wir bedanken uns nochmals ausdrücklich dafür, diesen Artikel hier veröffentlichen zu dürfen.
Diese Zeitschrift ist sehr empfehlenswert und erscheint 4x im Jahr. Sowohl ein Print- als auch ein Digital-Abo sind möglich.
https://www.wissenschaft-und-frieden.de
»Verblendung« als Aufklärung Eine Gedenkinstallation für die Opfer der »Marburger Jäger« von Anne Maximiliane Jäger-Gogoll

Das Bündnis „Nein zum Krieg“, Friedenspolitischer Gesprächskreis im DGB Kreis Marburg- ­Biedenkopf beschäftigt sich schon seit Jahren mit dem Thema (siehe alle Beiträge inklusive zur Gedenkinstallation) :

Redebeitrag von Anne Maximiliane Jäger-Gogoll anlässlich des Osterspaziergangs 2018 im Schülerpark (Quelle: https://www.freie-radios.net/88302):

Dr. Olga Kamoruao engagiert sich seit ihrer Pensionierung 2012 in Namibia für die Rechte der Herero. Sie besuchte Marburg 2014. In diesem Zusammenhang überbrachte sie Solidaritätsschreiben von Häuptlingen einiger Völker aus Namibia, die von uns 2014 dokumentiert wurden.
Beispielsweise:

Marburger Friedensbewegung begrüßt Entscheidung für Gedenkinstallation „Verblendung“ im Schülerpark“ – Kritik an mangelnder Aufarbeitungsbereitschaft der Jägerkameraden

Erklärung des friedenspolitischen Gesprächskreis des DGB und des Bündnis „Nein zum Krieg“

„Mit ihren öffentlichen Äußerungen (O.P. v. 12.6.18) belegen Vertreter der Kameradschaft Marburger Jäger abermals, dass sie trotz aller öffentlichen Diskussionen und Aufarbeitungsbemühungen seitens der Stadtgesellschaft nicht bereit sind, sich kritisch mit den Untaten auseinanderzusetzen, die von der Militäreinheit Marburger Jäger im 19. und 20. Jahrhundert begangen worden sind. Wie die Geschichtswerkstatt erforscht hat, war sie beteiligt an der Zerschlagung der Pariser Commune 1871, der Niederschlagung des „Boxer-Aufstandes“ in China 1900/01, am Völkermord an den Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika 1904-1907, heute Namibia, am Massaker an der Zivilbevölkerung im belgischen Dinant 1914 und der Erschießung demonstrierende Arbeiter im schlesischen Königshütte 1919.

Die Geschichte der Stadt Marburg, jahrzehntelang Garnisonsstandort, verpflichtet zu öffentlicher Aufarbeitung von Gewalttaten, Kriegsverbrechen, Militarismus und Krieg. Das Jägerdenkmal im Schülerpark, in den 1920er Jahren errichtet, um die Untaten der Jäger zu glorifizieren und jüngere Generationen auf Krieg und Revanche einzuschwören, ist der geeignete Ort für eine Gedenkinstallation, die sich kritisch mit der Jägergeschichte auseinandersetzt. Ein solches Denkmal ist ein weiterer und besonderer Schritt in den Bemühungen der Stadt, die dunklen Seiten der Stadtgeschichte aufzuarbeiten.

Der von der Jury ausgewählte Entwurf „Verblendung“ von Heiko Hünerkopf setzt die Intention des Stadtparlamentsbeschlusses, in ‚Kommunikation und Konfrontation‘ mit dem Jägerdenkmal im Schülerpark den Opfern der Untaten der „Marburger Jäger“ einen räumlichen Ausdruck zu verleihen und ein sichtbares Zeichen für Frieden und Völkerverständigung zu setzen, überzeugend um. Die Installation ist weithin sichtbar, irritiert, informiert und lädt zu weiterer kritischer Auseinandersetzung ein. Der Titel ‚Verblendung‘ verweist auf die kritisierte Ideologie eines scheinbar unpolitischen Totengedenkens, das in Wahrheit von militaristischem und revanchistischem Denken durchzogen ist.

Der erneute Versuch der Jägerkameraden, sich in der Öffentlichkeit so darzustellen, als wollen sie vermeintlich unpolitisch lediglich alle Kriegstoten betrauern und seien das Opfer einer linken oder sonstigen Verschwörung, ist ein durchschaubares Manöver, das von den Erkenntnissen über die Untaten und verbrecherische Seite der Marburger Jäger sowie von der eigenen problematischen Traditionspflege ablenken soll.“

Für den Friedenspolitischen Gesprächskreis
im DGB Marburg-Biedenkopf / Bündnis Nein zum Krieg

Kunstwettbewerb Gedenkinstallation Schülerpark Entscheidung für Heiko Hünnerkopf, Burkhard Hagen Fischer und Antje Dathe

Entscheidung für 1.Heiko Hünnerkopf, 2.Burkhard Hagen Fischer und 3.Antje Dathe

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Video-Link: http://youtu.be/edOVWQjpdIQ

Alle (Video) Beiträge

Vortrag von Dr. Olga Kamoruao

Am 24.03.2014 (20:00 Uhr) wird Dr. Olga Kamoruao zum Thema: „Namibia: Geschichte und Gegenwart einer ehemaligen deutschen Kolonie“ im Marburger Weltladen sprechen.

Veranstalter:

Namibia-Soligruppe Marburg in Gründung, Weltladen Marburg, Marburger Forum für entwicklungspolitische und interkulturelle Themen in Kooperation mit ARBEIT und LEBEN Marburg (AG von DGB und vhs)

Zum Vortrag:
„Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Mit diesen Worten kündigte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt und spätere Reichskanzler von Bülow am 06.12.1897 im Reichstag die Hinwendung zum expansiven Kolonialismus an. Zwischen 1884 und 1915 hatte sich das nach Weltmacht strebende Deutsche Reich das heutige Namibia als Kolonie Deutsch-Südwestafrika einverleibt. Als 1904 Herero, Nama, Damara und Ovambo rebellierten, entfesselten die Deutschen den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, dem fast 100.000 Menschen zum Opfer fielen. Bis heute bekannte sich keine deutsche Regierung zu dem begangenen Genozid – aus Furcht vor staatsrechtlichen und finanziellen Konsequenzen.

Nachdem 2011 im Marburger Stadtteil Bortshausen ein umstrittenes Denkmal für die Marburger Jäger errichtet wurde, die an den kolonialen Verbrechen beteiligt waren, drang diese Nachricht auch nach Namibia. Die Empörung darüber, dass man in Deutschland die begangenen Gräuel vergessen hat, aber die Täter ehrt, während die Folgen in Namibia bis heute allgegenwärtig sind, ist groß. Stammesoberhäupter der Herero und Nama schickten Protestbriefe nach Marburg, die ihre Vertreterin Dr. Olga Kamoruao dem Magistrat übergab.

Am 24.03.2014 wird die promovierte Pädagogin erneut nach Marburg kommen, um einer breiteren Öffentlichkeit über die Geschichte und Gegenwart ihres Landes zu berichten und das Bildungs- und Ausbildungsprojekt Kavitu vorzustellen, für das sie gerade in Berlin wirbt. Ganz in der Nähe des Ortes, an dem Generalleutnant Lothar von Trotha vor über 100 Jahren den Vernichtungsbefehl erteilt hat, soll das Schul- und Berufsausbildungsprojekt für eine endlich freie, aber benachteiligte junge Generation entstehen.

Dr. Olga Kamoruao lehrte an der Namibia-Universität in Windhuk und engagiert sich für die Rechte der Herero. Sie fordert von der deutschen Bundesregierung, den Völkermord an den Herero, Nama, San und anderen Völkern Namibias endlich anzuerkennen und die Nachkommen der Betroffenen für die Verbrechen zu entschädigen.

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Hier findet ihr den Bericht der Oberhessischen Presse zur Veranstaltung.

Herero fordern Rückbau des Kriegerdenkmals in Bortshausen

Wir durften gestern Dr. Olga Karumuao auf unserem Bündnistreffen begrüßen. Sie sprach mit uns über den Genozid an den Herero und Nama, über deren aktuelle Situation und deren Wünsche bzgl. des Kriegerdenkmals in Bortshausen.

Dazu passend, ein Auszug aus einem Artikel aus der Oberhessischen Presse:

„Olga Karumuao ist tief erschüttert. Sie steht neben dem Kriegsdenkmal der Marburger Jäger in Bortshausen – dort wird auch der Jäger gedacht, die zwischen 1904 und 1908 an der Ermordung von Herero, Nama, Okarara und San im damaligen Deutsch-Südwestafrika beteiligt waren. „Würden diese Menschen heute noch leben, würden sie wegen Kriegsverbrechen im Gefängnis sitzen“, ist sich der Gast aus Namibia sicher.“

Marburg bittet um Entschuldigung für das Massaker in Dinon 1914

Auszug aus dem Artikel in der Oberhessischen Presse:

„In Dinant waren im August 1914 mehr als 700 Zivilpersonen durch deutsche Soldaten völkerrechtswidrig ermordet worden. Aktiv daran beteiligt waren auch Soldaten des Jäger-Bataillons Nr. 11, die nur unter dem Namen „Marburger Jäger“ bekannt waren. Die Taten der Marburger Jäger waren auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung detailliert in einer Studie der Geschichtswerkstatt aufgearbeitet worden, die im Frühjahr 2013 vorgestellt worden war. „Die Darstellung der damaligen Gräuel an den Bewohnern Ihrer Stadt hat uns mit Scham erfüllt“, schreibt Vaupel in einem Brief an seinen Amtskollegen Richard Fourneux. Er wolle sich als Oberbürgermeister als Oberbürgermeister heute „bei Ihnen, der Stadt Dinant und den Nachfahren der damaligen Betroffenen entschuldigen“, heißt es in dem Schreiben.“