Warum nicht auf Russland zugehen?

Leserbrief in der Oberhessischen Presse vom 22.1.2022

Meinung zur Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt:

Entspannt Euch mal, und zwar alle.

Die Berichterstattung in unseren Medien zum Ukraine-Konflikt verläuft in unerträglicher Wiederholungsschleife von Warnungen, Drohungen, Sanktionen bis hin zu abwegigen Einfällen, wie Russland aus dem internationalen Zahlungsverkehr SWIFT auszuschließen. Wie kann es richtig sein, ein Land absichtsvoll wirtschaftlich zu destabilisieren, denn genau dies würde dieser Ausschluss bedeuten.

Es geht im Kern um die Nato-Osterweiterung, von der Hans-Dietrich Genscher sagte, dass sie ein Fehler sei. Weiterlesen

Eiszeit mit Russland?

Leserbrief am 3.1.2022
Zur gegenwärtigen Berichterstattung über den Konflikt zwischen der Ukraine respektive der Nato und Russland an der Ostgrenze der Ukraine:

„Wenn die Russen kommen“, „revanchistisches Russland“, „aggressive Haltung Putins“• so oder ähnlich tönt es seit Wochen aus den Nachrichten.

Da wird das Szenario eines drohenden russischen Einmarsches in den Donbass an die Wand gemalt.

Wie mehrere Analysen zeigen, hat Moskau daran jedoch gar kein Interesse, sehr wohl aber an Garantien für die Sicherheit Russlands.

Es geht dem Kreml vor allem um eine endgültige Beendigung der Nato-Osterweiterung, vor allem um den Verzicht auf die geplante Aufnahme der Ukraine und Georgiens in den Militärpakt, wie es in einem Entwurf einer „Vereinbarung zur Gewährleistung der Sicherheit Russlands und der Nato-Mitgliedstaaten“ heißt, der am Freitag vom russischen Außenministerium vorgelegt wurde. Nato und USA jedoch beharren auf der Aufnahme der beiden Länder.

„Ich denke, das (die NatoOsterweiterung) war ein tragischer Fehler. Es gab überhaupt keinen Grund dafür.

Niemand bedrohte irgendjemanden.“ Wer das sagte? Putin? Nein, es war George Kennan, der Architekt amerikanischer Eindämmungspolitik.

Der langjährige deutsche Außenminister Hans Dietrich Genscher sah das nicht anders. Und Kennan fügte hinzu: „Natürlich wird es darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland geben, und dann werden sie (die NatoErweiterer) sagen: So sind die Russen, das haben wir auch immer gesagt.“ Jahrelang hat sich Moskau um eine engere Kooperation mit dem Westen bemüht, man denke nur an die mit stürmischem Applaus bedachte Rede Putins im September 2001 im Deutschen Bundestag, in der er für die Errichtung einer „dauerhaften internationalen Sicherheitsarchitektur“ und für einen gemeinsamen „Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok“ warb – was die USA bisher mit aller Macht zu hintertreiben wussten.

Antwort des Westens auf die Vorschläge? Keine.

Bereits Anfang 1954 plädierte die UdSSR für die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems – erfolglos. Vieles wäre noch zu erwähnen.

Schließlich kamen 2014 mit dem vom Westen befeuerten Putsch in der Ukraine reaktionäre und faschistische Kräfte an die Macht, die das Land zu einem Frontstaat gegen Russland aufbauten.

Wer nicht nur der üblichen Propaganda aufsitzen, sondern sich über die Hintergründe des gegenwärtigen Konflikts zwischen der Nato und Russland gründlich informieren möchte, möge unbedingt den exzellenten Vortrag „Eiszeit mit Russland?“ anhören, den Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz kürzlich in der VHS Köln gehalten hat.

Er ist auf Youtube verfügbar.

Ein Muss für an Fakten Interessierte.

Erwin Junker, Marburg

Unverfrorene Ignoranz. Ein Bekenntnis zur Nato?

Leserbrief in der Oberhessischen Presse vom 18.9.2021

Da verlangen die drei Kanzlerkandidaten bzw. -kandidatin mit unverfrorener Ignoranz ein Bekenntnis zur Nato ausgerechnet, oder gerade deshalb, von der einzigen Partei im Deutschen Bundestag, die konsequent gegen die militärischen Interventionen in Afghanistan gestimmt hat.
Geht‘s noch? Man nenne mir nur einen Grund, warum diese mörderische Aktion und das anschließende im Stich lassen der Ortskräfte für ein zustimmendes Bekenntnis taugen soll.
Die Partei Die Linke hat im Juni gemeinsam mit den Grünen einen Antrag zur Evakuierung eben dieser Ortskräfte eingebracht. Ergebnis: Die Mehrheit von SPD und CDU stimmte dagegen.
Als es Ende August um eine Mandatsverlängerung zur Rettung der Menschen ging, hat sich Die Linke im Bundestag enthalten. Die Überschrift des Antrages passte einfach nicht zum Kleingedruckten, wo es um die Evakuierung „ . . . deutscher Staatsangehöriger, von Personal der internationalen Gemeinschaft sowie weiterer designierter Personen aus Afghanistan“ ging. Jedoch kein Wort darüber, wer denn diese „designierten“ Menschen sind, und vor allem: Wer „designiert“ hier, wer entscheidet darüber? Alles unklar. Und da soll man zustimmen?
Und trotzdem geht es ständig um ein Bekenntnis zur Nato. Dabei wissen wir doch inzwischen, was von der Nato zu halten ist: die Bombardierung Jugoslawiens ohne UN-Mandat, die Bombardierung Libyens, wo eigenmächtig die UN-Resolution Nummer 1973 umgangen wurde. Eine Resolution, die eine Errichtung einer Flugverbotszone vorsah; die Nato und ihre Verbündeten entschieden sich aber für einen Sturz Ghaddafis. Es folgte ein Bürgerkrieg, der bis heute das Land zerreißt.
Und nach dem Debakel in Afghanistan soll nun durch Bekenntnisse die Nato wieder reingewaschen werden. Es braucht aber Bekenntnisse ganz anderer Art: Nein zu der Zwei-Prozent-Forderung der Nato, die unsere Ausgaben für Rüstung um etwa weitere 25 Milliarden Euro in die Höhe treiben würden.
Nein zur nuklearen Teilhabe, die deutsche Piloten verpflichten würde, Atombomben zu ihren Einsatzorten zu fliegen.
Nein zu FCAS (Future Combat Air System), das sich Deutschland im Verein mit Frankreich und Spanien ausgedacht hat und dessen bislang geschätzte Kosten 300 Milliarden Euro wohl überschreiten werden.
Ja zu einer Reduzierung der Rüstungsausgabe, Ja zur Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrages durch die Bundesregierung, Ja zu Frieden durch Abrüstung. Am 26.09. ist Wahltag!
Karin Schwalm,
Marburg

Bankrott-Bilanz der „entwickelten“ Staaten

Leserbrief zu den neuesten SIPRI-Zahlen:

Der aktuelle Bericht des untadeligen schwedischen SIPRI-Instituts bringt es wieder an den Tag: Die Aufrüstungskosten haben den Stand der schlimmsten Phase des Kalten Krieges erreicht. Und die Bundesrepublik Deutschland ist ganz vorne dabei! Unvorstellbare (knapp) zwei Billionen US-Dollar sind im vergangenen Jahr von (im übrigen fast ausnahmslos völlig überschuldeten) Staaten an die Rüstungskonzerne geflossen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist bei den Steigerungsraten Spitze: Im vergangenen Jahrzehnt sind die Ausgaben für die als „Verteidigung“ titulierte Kriegsvorbereitung um etwa 30 Prozent gestiegen. Alle Interventionskriege mit deutscher Beteiligung sind kläglich gescheitert, zigtausende Soldatinnen und Soldaten leiden allerdings unter PTBS. Der Rüstungsexport feiert fröhliche Urständ – auch hier ist Deutschland mit dieser Form der Verunsicherheitlichung der sensiblen Weltpolitik an der Spitze der Entwicklung.

Die USA mit ihren vier Prozent Anteil an der Erdbevölkerung vergeuden 40 Prozent der weltweiten Aufwendungen an die Rüstung, die VR China mit einem Viertel der Erdbevölkerung 13 Prozent. Die Nato-Staaten und ihre Verbündeten (u.a. Israel und Saudi-Arabien) kommen auf zwei Drittel.

Zwei Fragen stelle ich mir fortwährend: Wer bedroht unser Land, die EU insgesamt, militärisch? Und: Wären unsere Staaten militärisch überhaupt zu verteidigen? Mit ihren AKWs, mit der zentralisierten Hightech, mit den riesigen Chemie- und Pharma-Unternehmen, mit der gesamten industriellen Infrastruktur …

Altbundeskanzler Helmut Schmidt formulierte kurz vor seinem Tod einen Satz, den sich die Kramp-Karrenbauer, die Maas und (scheinbar besonders schlimm) die Baerbock als Bildschirmschoner montieren lassen sollten: „Lieber einhundert Mal ergebnislos verhandeln, als einmal schießen“.

Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Übrigens hat die bevorzugte Projektionsfläche des aktuellen Berliner Kalten Krieges, Russland, zum wiederholten Mal die Rüstungsaufwendungen gekürzt und vergeudet jetzt eine Großbritannien vergleichbare Summe.

Für Entwicklungshilfe wurden beschämende 120 Milliarden US-Dollar aufgewandt (die überdies noch zu 80 Prozent in die Unternehmen der Geberländer flossen). Die wirksame Bekämpfung des Hungers auf der Erde würde etwa drei Prozent der Rüstungsausgaben bedeuten. Die Zahl der Hungernden und Unterernährten hat im vergangenen Covid-Jahr um etwa 15 Prozent zugenommen, was die Bankrott-Bilanz der sogenannten „entwickelten“ Staaten der Erde vervollständigt.

Johannes M. Becker, Marburg

Eingekesseltes Russland

Leserbrief in der FR 15.4.2021

Betr. Ihre differenzierte Berichterstattung zum Verhältnis des Westens mit Russland

Im Gegensatz zum Gros der deutschen Presse bemüht sich die FR um ein differenziertes Russland-Bild in der aktuellen Konfliktlage, insbesondere zur Politik um die Ukraine. Als Hochschullehrer und Friedensforscher möchte ich insbesondere zum Leitartikel von Andreas Schwarzkopf vom 15.4. eine Anmerkung machen. Ist es klug, wenn der Westen jetzt in der Schwarzmeerregion das großangelegte Manöver „Defender Europe 2021“ beginnt? Wenn ich mir dazu die Landkarte anschaue und den europäischen Länderteppich von 1990 und 2021 betreffend die Ausdehnung der NATO angucke, dann verstehe ich manche politische Aktion aus Moskau besser. Das Land muss sich eingekesselt fühlen. Dazu stagnieren (lauf SIPRI) die russischen Rüstungsaufwendungen, während die der NATO, insbesondere die Deutschlands, ungebremst ansteigen.

Wäre es im Angesicht des herannahenden 80. Jahrestages des Überfalls von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion nicht eher angebracht, wenn von der Bundesrepublik Deutschland die Initiative zu einer neuen Entspannungspolitik mit Russland ausginge?

Unser Land sollte die Kooperationsangebote Russlands unbedingt ernst nehmen und den Boden der neuen Feindbild-Produktion gegenüber. Moskau ebenso verlassen wie das unselige 2 %-Aufrüstungsziel der NATO.

PD Dr. Johannes M. Becker, Marburg

Rüstungsausgaben sind eine Verschwendung

Zum Leserbrief von Dr. Kampe zu der Forderung der Verteidigungsministerin nach höheren Ausgaben für die deutsche Sicherheit:

Leserbriefschreiber Dr. Kampe (OP, 10. April) bescheinigt den Forderungen der Ostermarschierer „Blindheit gegenüber der tatsächlichen Lage in der Welt“ und behauptet, dass sich „nur auf der Grundlage eigener Stärke“ „erfolgreich für Abrüstung und Frieden eintreten“ lasse. Diese Sicht ist einseitig und schwer mit der Realität zu vereinbaren.

Nach Ende des Ost-West-Konfliktes 1990 sind die USA die alleinige Weltmacht.

Ihr Militärbündnis, die Nato, ist nach Berechnungen des Forschungsinstituts SIPRI für mehr als die Hälfte der weltweiten Militärausgaben verantwortlich (werden verbündete Länder wie Israel und Saudi-Arabien einbezogen, sind es sogar über 60 Prozent).

Die USA und die Nato, damit auch Deutschland, sind also seit mehr als 20 Jahren die militärisch bei weitem stärksten Mächte. Und trotzdem sind weder Abrüstung noch Frieden eingetreten. Im Gegenteil, die Nato und ihre Mitgliedsländer sind an etlichen Kriegen beteiligt, von Jugoslawien (Serbien) über Irak und Libyen bis Syrien.

Die Militär-Logik ist recht einfach: Um eigene (geo-)politische, wirtschaftliche und andere Ziele durchzusetzen, muss „man“ militärisch überlegen sein. Dummerweise denkt der potenzielle Gegner ähnlich und rüstet ebenfalls auf, dies wird zu Recht als Rüstungsspirale bezeichnet.

Dieses Problem lässt sich nicht militärisch, sondern nur politisch regeln. Und zwar mit vertrauensbildenden Maßnahmen und möglichst in der dafür vorgesehenen Organisation, den Vereinten Nationen. Diese gilt es also zu stärken und nicht systematisch zu schwächen.

Hintergrund des Leserbriefs war die Forderung der Ministerin Kramp-Karren-bauer nach Erhöhung des Wehretats.

Dazu zwei Anmerkungen: Eine Erhöhung des Etats auf 2 Prozent des Brutto-Inlands-Produktes würde bedeuten, dass etwa 20 Prozent des Bundesetats in die Rüstung investiert werden. Zudem: Bei Erreichen dieses Wertes würde allein Deutschland etwa genau so viel im Rüstungsbereich ausgeben wie Russland, das aber weiterhin als Feindbild stilisiert wird.

Diese beiden Fakten aber werden von Befürwortern gerne verschwiegen.

Zum Schluss (und immer wieder): Die Ausgaben für Rüstung und Militär sind eine ungeheure Verschwendung von finanziellen, materiellen und intellektuellen Ressourcen. Würden diese Mittel angemessen eingesetzt, könnten jedem Menschen der Erde die Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben garantiert werden.

Prof. Dr. Gert Sommer, Marburg

s.a. Höchste Zeit für neue Entspannungspolitik

Höchste Zeit für neue Entspannungspolitik

Leserbrief zum Interview mit Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in der OP vom 3. April 2021:
Hätte der junge Mann im „Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ das Interview mit Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer lesen können, es hätte ihn sofort gegruselt.
Denn ihre Pläne, mit denen sie „Sicherheit“ zu erlangen gedenkt, geben Anlass zu schlimmen Befürchtungen.
Den exorbitanten Anstieg der deutschen Rüstungsausgaben auf insgesamt 53 Milliarden Euro pro Jahr hält sie für „nicht einmal annähernd ausreichend“ und will ihn für längere Zeit sogar noch durch ein sogenanntes „Planungsgesetz“ fixieren; dies in einer Zeit (Pandemie), da jeder für die Kriegsindustrie ausgegebene Euro in allen Sektoren der zivilen Versorgung schmerzlich fehlt.
Außerdem erhebt sie in frappierender Offenheit mit dem geplanten Einsatz der Bundesmarine im Indopazifik, der die Spannungen dort noch einmal deutlich erhöhen dürfte, faktisch einen militärischen Weltmachtsanspruch für Deutschland.
Und, Russland betreffend, raunt sie von „Attacken, die mit Russland in Verbindung gebracht werden können“, womit sie die westliche Tradition unbewiesener Anschuldigungen gegen Moskau fortsetzt.
Wer bedroht wen? Der verstorbene Bundeskanzler Helmut Kohl soll gesagt haben, „wir“ seien „umzingelt von Freunden“.
„Sicherheit ist neu zu denken …
Und Russland? Hat es nach dem Ende der UdSSR keine Nato-Osterweiterung gegeben? Ist in Polen und Rumänien kein Raketenabwehrsystem stationiert worden? Sitzen in der ukrainischen Regierung keine strikten Befürworter einer Nato-Mitgliedschaft ihres Landes? Ist Russland nicht von hunderten US-Militärbasen umgeben? Und wird mit der geplanten Stationierung neuer B61-12 Atomwaffen die Hemmschwelle für einen Atomkrieg nicht weiter gesenkt? Wer muss sich da bedroht fühlen? Ein Perspektivenwechsel könnte neue Erkenntnisse erbringen.
Derzeit steht die sogenannte Atomkriegsuhr auf 100 Sekunden vor Mitternacht. Es ist höchste Zeit für eine neue Entspannungspolitik mit unseren östlichen Nachbarn.
Von russischer Seite hat es in den letzten 20 Jahren mehrere solcher Signale gegeben, angefangen mit der Rede Präsident Putins im Deutschen Bundestag am 25. September 2001, in der er für die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums „von Lissabon bis Wladiwostok“ warb – ein Angebot, das im Westen keine Antwort fand.
Ja, Frau Kramp-Karrenbauer hat recht: „Wir müssen in unsere Sicherheit investieren.“ Aber anders, als die Ministerin sich das denkt. Sicherheit ist neu zu denken; sie ist nicht weiter voreinander, sondern nur noch miteinander zu suchen.
Auf der Tagesordnung stehen Verständigung und Abrüstung.

Erwin Junker,
Marburg

Stadt stellt sich ihrer Geschichte

Leserbrief vom 11. März 2021 in der Oberhessische Presse

Reaktion auf den Artikel „Konservativer wird AfD-Gesicht“: Über die Einlassung des Herrn Pozzi, Spitzenkandidat der AfD, zum Jägerdenkmal und der ihm beigesellten Gedenkinstallation „Verblendung“ muss ich mich doch wundern.

Ist es absichtliches Missverstehen, argumentative Böswilligkeit oder einfach Ausdruck eines schlichten Gemüts, dass Herr Pozzi, offenbar von jeder Kenntnis des intensiven Diskussionsprozesses um den historischen und künstlerischen Umgang mit dem Jägerdenkmal ungetrübt, den Uralt-Vorwurf wiederholt, man wolle so tun, als sei die Garnisonsvergangenheit Marburgs mitsamt dem 11. Jägerbataillon „nicht Teil der Geschichte dieser Stadt“, wolle sie „verleugnen“ oder sogar „tilgen“? Genau das Gegenteil ist doch der Fall: Mit der Aufarbeitung der Geschichte der Marburger Jäger durch die Geschichtswerkstatt, dem darauf basierenden Beschluss des Magistrats zur Errichtung der Gedenkinstallation, dem internationalen Kunstwettbewerb mit interdisziplinärem Auswahlgremium, schließlich der Errichtung des Siegerentwurfs, der „Verblendung“ von Heiko Hünnerkopf, stellt sich die Stadt Marburg ihrer Geschichte als Standort einer Militäreinheit, von der sie vielfach geprägt wurde, die jedoch zwischen 1871 und 1919 ganz oder in Teilen auch an manifesten Kriegsverbrechen in Frankreich, Belgien, Namibia, China und dem heutigen Polen beteiligt gewesen ist. Während ein Rundbrief der heutigen Jägerkameradschaft (der Herr Pozzi bekanntlich angehört) im Jahr 2002 die „Geschichte des Kurhessischen Jägerbataillons Nr. 11“ ungeachtet dieser sehr dunklen Seiten ein „Beispiel für großartiges Soldatentum und deshalb vorbehaltlos tradierbar“ nannte, ergänzt Hünnerkopfs „Verblendung“ diese Geschichtsschreibung um ihre bislang verleugnete Seite. Sie zeigt die Verankerung im rücksichtslosen Kolonialismus und Militarismus des nach Vorherrschaft strebenden deutschen Kaiserreichs, einer Ideologie, die unmittelbar in die Vorbereitungen zum nächsten, dem Zweiten Weltkrieg, mündete, was sich nach 1933 auch im Namen der Marburger SA-Einheit „Standarte Jäger 11“ niederschlug.

Die Errichtung der „Verblendung“ am Jägerdenkmal ist ein mutiger Schritt, Geschichte anzuerkennen und im Sinne einer vielfältigen und friedensfähigen Gesellschaft produktiv sichtbar zu machen.

Dabei schließt die Trauer um die Opfer der Untaten der Marburger Jäger die Erinnerung an jene, für die Marburger Familien das Denkmal einst finanzierten, nicht aus.

Auch sie sind Akteure im Kontext jener ideologischen Verblendung, die die Installation benennt.

Es wäre begrüßenswert, wenn diese Differenzierung auch in die Gedankenwelt des Herrn Pozzi Eingang fände.

Priv.-Doz. Dr.
Anne Maximiliane Jäger-Gogoll,
Marburg

Schon letztes Jahr…
Leserbrief vom 27. März 2020 in der Oberhessische Presse

Unwilligkeit zu lernen

Leserbrief zum Artikel „Marburger Jäger wollen Gedenkinstallation verhindern“ vom 21. März: Mathias Pozzi, Schriftführer bei den Jägerkameraden sowie beim Marburger Stadtverband der AfD, beklagt sich gegenüber der OP, dass „ein fast 100 Jahre altes Denkmal entwürdigt und entehrt wird“. Welche Ehre, welche Würde sollen hier durch einstweilige Anordnung gerettet werden? Es geht um die Umsetzung eines Beschlusses der Marburger Stadtverordnetenversammlung, diesem Denkmal eine Installation beizufügen, die einen deutlichen Hinweis auf die Untaten der Marburger Jäger enthalten und ihren Opfern ein Gesicht geben soll. Die Vorbereitungen zur Umsetzung des in öffentlichem Diskussionsprozess gefundenen Entwurfs sind weitgehend abgeschlossen.

Die Militäreinheit „Marburger Jäger“ war, wie die Geschichtswerkstatt erforscht hat, an der Zerschlagung der Pariser Commune 1871, der Niederschlagung des „BoxerAufstandes“ in China 1900/01, am Völkermord an den Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie DeutschSüdwest-Afrika 1904–1907, heute Namibia, am Massaker an der Zivilbevölkerung im belgischen Dinant 1914 und demonstrierenden Arbeitern im schlesischen Königshütte 1919 beteiligt.

Das 1923 errichtete Objekt war von Anfang an als Zeugnis des Revanchismus und Militarismus konzipiert. In der Weiherede rief der ehemalige Jäger-Kommandeur a.D. Karl von Börries die Jugend auf, bereit zu sein für Heldentod und neuen Krieg: „… Das Denkmal für unsere tapferen Marburger Jäger möge den nachkommenden Geschlechtern Mahnung und Ansporn sein, es den Vätern gleichzutun. Dermaleinst werden die Kriegstoten auferstehen und unsichtbar einherschreiten vor Deutschlands Streiterscharen, wenn unser Volk wieder erwachen wird.“ Der Kameradschaft (und/ oder der AfD) passt nicht, was das Parlament seinerzeit beschlossen hatte: „Die Stadtverordnetenversammlung betrachtet die Einrichtung einer solchen Gedenkinstallation nicht nur als einen wichtigen Beitrag für die Aufarbeitung Danke auch für die Disziplin der Geschichte des Militarismus in Marburg und für die Aufklärung kommender Generationen, sondern auch als einen lokalen Beitrag für eine Kultur des Friedens und der Völkerverständigung.“ Die „Jäger“ entehren sich selbst durch ihre Unwilligkeit zu lernen. Ein heute noch an führender Stelle aktiver Jägerkamerad zeigte bei der öffentlichen Vorstellung des Berichts der Geschichtswerkstatt die „18“ (Szene-Code für A. H.) auf seinem Hemdrücken. Sie reden bis heute von den Verbrechen als „angeblichen Geschehnissen“. Wer die Geschichte leugnet, bereitet den Boden für die Rechtfertigung neuer Verbrechen.

Ralf Schrader, für das Marburger Bündnis „Nein zum Krieg“, Marburg

Weiteres zum Thema „Marburger Jäger“

Alles soll sich „rechnen“

Leserbrief in der OP vom 14.1.2021

Frau Sandra Ciesek ist mit ihrer Feststellung, dass „Corona Defizite in der Gesellschaft deutlich“ mache, uneingeschränkt zuzustimmen. Nun sind das Virus und seine Begleiterscheinungen zwar reale Probleme, aber das, was dabei wirklich immer deutlicher wird, ist die kapitalistische Gesellschaftsordnung, ihre Verfasstheit und ihr ideologisches Selbstverständnis. Fast alle Lebensbereiche sollen sich „betriebswirtschaftlich rechnen.“ Im Gesundheitswesen zeigt sich besonders deutlich, wohin der Privatisierungswahn und die daraus rührenden Dividendenerwartungen führen. Die Bertelsmann-Stiftung rechnete bereits 2014 vor, dass man den Krankenhausbestand von seinerzeit noch 1800 Einrichtungen auf 400 absenken könne, „damit sich das rechnet.“ Die Folge einer solchen Denke sind Austritte aus flächendeckenden Tarifverträgen und die erfolgten Schließungen von Dutzenden von Häusern mit kleiner Bettenzahl. Kreiskrankenhäuser sind gezwungen nachzuweisen, dass sie profitabel arbeiten, – wenn nicht, macht man dicht.
Eine wohnortnahe, qualifizierte Mindestversorgung, besonders im ländlichen Raum, ist nicht mehr gewährleistet. Arno Widmann, stellt in einem Kommentar der Frankfurter Rundschau (FR) am 8. Januar 2021 (zu einem anderen Thema) fest, „dass die Demokratie ihre Kinder verrät“ und „dass wir die Diktatur der Konzerne jeden Tag auf’s Neue erfahren.“ In der gleichen Ausgabe der FR formuliert Stefan Hebel: „Es ist die riesige Kluft zwischen Arm und Reich, die Erosion sozialer Absicherung und öffentlicher Daseinsvorsorge, die ständige Existenzangst bis in weite Teile der Mittelschicht hinein“, die Sorge bereitet. Aus dieser Angst versuchen die Rechten und ihr parlamentarischer Arm, die AfD, Stimmung zu machen, gegen angebliche Sozialschmarotzer und gegen Virus-importierende Asyl und Schutz suchende Menschen. Wir brauchen eine radikale Rückbesinnung auf den starken Sozialstaat, um sowohl das Coronavirus, als auch das Virus in den Köpfen zu bekämpfen. Im Superwahljahr 2021 sind die Parteien programmatisch gefordert!
Pit Metz,
DGB-Kreisvorsitzender, Marburg

 

Thema Abrüstung bei den Wahlen priorisieren

Leserbrief in der OP vom 6.1.2021

Wir brauchen auch einen Impfstoff gegen den Krieg, sagt Konstantin Wecker. Recht hat er. Die Rüstungsexporte der Bundesrepublik beliefen sich im vergangenen Jahr auf eine Milliarde Euro. Empfängerländer waren unter anderem Ägypten, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und die Türkei. Länder, die in die Konflikte im Jemen und in Libyen verwickelt sind. Im Jemen sind fünf Millionen Kinder vom Hunger bedroht. Verzweifelte Eltern bringen ihre abgezehrten Kinder in Kliniken, wo man ihnen nicht helfen kann, weil es an allem fehlt. Es gibt keine Nahrung, keine Medikamente.
Zeitgleich verlangt die Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer die Anschaffung bewaffneter Drohnen zum Schutze unserer Soldaten. Achtung Falle: Wenn unsere Soldaten zuhause blieben, wären sie ausreichend geschützt. Auslandseinsätze der Bundeswehr zur Erreichung politischer Ziele funktionieren nicht, siehe Afghanistan.Selbst das Pentagon hat Studien erstellt, die dies für jedermann nachlesbar untermauern.
Bewaffnete Drohnen sind vor allem ein Baustein zur Entwicklung autonomer Rüstungsprojekte (Future Combat Air System FCAS), auf die sich die Bundesrepublik, Spanien und Frankreich geeinigt haben. Dies sagt man uns natürlich nicht. Autonome Rüstung, dies ist eine Tür, die man besser nicht aufstößt, denn man bekommt sie nicht mehr zu. Jemen, Syrien, Moria (Kara Tepe), Lipa in Bosnien.
Humanitäre Katastrophen, wohin man blickt. Gleichzeitig erlauben wir uns einen ständig steigenden Rüstungshaushalt von aktuell 40 Milliarden Euro. Es gibt für diesen Irrsinn kein einziges vernunftbasiertes Argument. Warum also erlauben wir dies? Das Jahr 2021 gibt uns allen mit der Kommunalwahl, der Landtagswahl und der Bundestagswahl Entscheidungsmöglichkeiten in die Hand. Wir können das Thema Abrüstung jedes Mal zur Priorität werden lassen.
Karin Schwalm, Marburg